Städtebauer, Entdecker, Widerstandskämpferin
Aber was bedeuten die Straßennamen auf dem Campus Holländischer Platz und den anderen Uni-Standorten eigentlich genau? Wer waren Nora Platiel und Heinrich Plett? Was hat der Holländische Platz mit Holland zu tun? Diese Fragen beantworten wir im ersten Teil der Reihe Straßennamen der Uni Kassel.
Diagonale
Einer der Straßennamen ist leicht zu erklären: Die Diagonale; von den Studierenden liebevoll „Diagonalley“ genannt. Sie verbindet den Holländischen Platz mit der Universitätsbibliothek und der Zentralmensa. Dabei durchschneidet sie den Campus diagonal, daher der Name. Die meisten anderen Straßennamen der Uni-Standorte sind nach Personen benannt, die in Kassel Spuren hinterlassen haben. Die Suche nach der Bedeutung der Straßennamen ist also eine spannende Reise in Kassels Vergangenheit.
Nora-Platiel-Straße
Von der Henschelstraße am Westrand des Campus HoPla, am AstA und am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften vorbei bis zur Campusbibliothek verläuft die Nora-Platiel-Straße. Nora-Platiel-Straße? Kennt man. Nora Platiel selbst kennen nur wenige. Zu Unrecht. Sie war Juristin jüdischen Glaubens und Widerstandskämpferin gegen den Nationalsozialismus. Geboren wurde sie 1896 als Nora Block in Bochum. Während des Studiums in Frankfurt und Göttingen wurde sie Mitglied des Internationalen Sozialistischen Kampfbunds. Danach legte sie 1927 ihr Rechtsreferendariat in Kassel ab. Nach der Machtergreifung der Nazis 1933 floh Nora Block nach Paris, wo sie für Exilzeitschriften schrieb. Nachdem die Wehrmacht das Land besetzt hatte, wurde sie interniert, konnte jedoch aus dem Lager entkommen. Sie floh ins französische Montabaun, wo sie ihren späteren Ehemann Herrmann Platiel kennenlernte, und von dort in die Schweiz. Nach Kriegsende kehrte Platiel in ihre Heimat zurück. 1949 zog sie nach Kassel. Hier wurde sie Landgerichtsrätin und trat der SPD bei. 1951 wurde sie Landgerichtsdirektorin. Zwischen 1954 und 1966 war sie Abgeordnete des Hessischen Landtags. Danach wurde sie Richterin am hessischen Staatsgerichtshof. Sie setzte sich für die Verständigung zwischen Deutschland und Israel und die Förderung von Kunst und Kultur ein. Ganz besonders engagierte sie sich aber für Frauenrechte. 1979 starb Nora Platiel in Kassel. Besucher können ihr Ehrengrab auf dem Kasseler Hauptfriedhof besichtigen.
Georg-Forster-Straße
Lang ist die Georg-Forster-Straße nicht. Sie führt vom Blauen Tor bis zur Ahne. Bescheiden für einen Mann, dessen Leben genug Stoff für einen tausendseitigen Roman bietet. Georg Forster lebte von 1754 bis 1794. Er war Naturwissenschaftler, Entdecker, Reiseschriftsteller, Ethnologe, Übersetzer und Politiker; all das in nur 39 Lebensjahren. Mit 13 übersetzte er ein russisches Geschichtsbuch ins Englische, seine erste Buchveröffentlichung. Mit 17 begleitete er Captain James Cook bei seiner zweiten Weltumseglung. In der
Südsee erforschte er Pflanzenarten genauso wie die einheimische Bevölkerung mit ihrer Lebensweise und Sprache. Mit seiner „Reise um die Welt“, einem Bericht über die Weltumrundung, wurde er zum Begründer der Reiseliteratur. 1778 kam Forster als angesehener Forscher nach Kassel, um am Collegium Carolinum Naturgeschichte zu lehren; später wechselte er an die Universität in Vilnius. Nach seinem Aufenthalt im Baltikum nahm er 1788 eine Stelle als Oberbibliothekar an der Universität Mainz an. Damit begann sein Wechsel von der Forschung in die Politik. In Mainz erlebte Forster, zunächst als Beobachter, die Französische Revolution. Die Stadt am Rhein wurde von französischen Truppen besetzt, mit deren Hilfe die „Mainzer Republik“ gegründet wurde: eine französische Tochterrepublik, die auf den Werten der Revolution basierte. Forster wurde Vize-Präsident der Verwaltung der jungen Republik und schrieb für die neue Mainzer Zeitung. Nach dem Abzug der Franzosen stellte der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Forster unter Reichsacht. Er ging nach Frankreich und durfte nicht mehr in seine Heimat zurückkehren. Forster verstarb völlig mittellos 1794 in Paris. Sein Erbe war lange umstritten. Von Nazis und Nationalisten als Vaterlandsverräter diskreditiert, gilt er heute als herausragende Persönlichkeit der Wissenschaftsgeschichte. Die Universitätsgesellschaft Kassel verleiht alle zwei Jahre den Georg-Forster-Preis für herausragende wissenschaftliche oder künstlerische Arbeiten. Auch die in Kassel ansässige Georg-Forster-Gesellschaft pflegt das Erbe des berühmten Entdeckers.
Heinrich-Plett-Straße
Die Heinrich-Plett-Straße ist eine der Hauptverkehrsachsen des Kasseler Stadtteils Oberzwehren. Hier befindet sich der Campus des Fachbereichs 10 Mathematik und Naturwissenschaften. Wer aber war Heinrich Plett? Plett war einer der bekanntesten Wohnungsunternehmer der deutschen Nachkriegszeit. Viele Straßen in Deutschland, in denen sich Bauprojekte Pletts finden, sind heute nach ihm benannt. Nicht nur in der Stadt an der Fulda, auch in München, Hamburg, Frankfurt und weiteren Städten tragen Straßen seinen Namen. Geboren wurde Plett 1908 in Kassel. Er machte nach der Schule eine Banklehre und arbeitete als Bankangestellter. Mit 21 Jahren holte er das Abitur nach und studierte Volkswirtschaftslehre. Während der NS-Zeit wurde der SPD-Sympathisant mehrmals von der Gestapo verhaftet. Trotzdem leitete er während des Krieges eine Wohnungsbaugesellschaft, die Wohnungen für Matrosen im von der Wehrmacht besetzten Gdingen nahe Danzig baute. Bekannt wurde Heinrich Plett erst in der Nachkriegszeit. Mittlerweile SPD-Mitglied und Gewerkschaftsfunktionär, wurde er 1950 Geschäftsführer der „Neuen Heimat“, eines gemeinnützigen Wohnungsbauunternehmens, das dem
Deutschen Gewerkschaftsbund gehörte. In dieser Position realisierte er mehrere Sozialbau-Projekte in der ganzen Bundesrepublik. Eines davon ist eine Hochhaussiedlung in Oberzwehren in eben der Straße, die heute Pletts Namen trägt.
Kurt-Wolters-Straße
Die Kurt-Wolters-Straße führt südlich am Campus HoPla vorbei, von der Weserstraße bis zum Holländischen Platz. Hier befindet sich auch der „Glaskasten“, das repräsentative Glas-Gebäude der nordhessischen Universität. Kurt Wolters wurde 1907 im Elsass geboren. Er studierte Ingenieurwesen an der Technischen Hochschule Hannover. Sein Name ist eng mit dem Wiederaufbau der nach dem Zweiten Weltkrieg zerstörten Stadt Kassel verbunden. Der Bauingenieur war von 1951 bis 1961 Leiter des Kasseler Tiefbauamtes. Seine Arbeit hat dem heutigen Kasseler Verkehrsnetz sein Gesicht gegeben. Sein wohl bekanntestes Projekt ist die Altmarktkreuzung zwischen der Fuldabrücke und der Kurt-Schumacher-Straße. Sie galt zu ihrer Zeit als „modernste Straßenkreuzung Europas“. Kurt Wolters war nie NSDAP-Mitglied, doch war er als Bauingenieur für das Regime tätig: Er baute unter anderem während des Krieges in der besetzten Sowjetunion ein Kraftwagenreparaturwerk [Anm. der Redaktion: Wir wurden darauf aufmerksam gemacht, dass Kurt Wolters nach neueren Erkenntnissen Mitglied in der NSDAP war. „Er war Mitglied der NSDAP seit 1937, Mitglied der SA von November 1933 bis Januar 1934 und Februar 1937 bis August 1941 und 1940 zum Rottenführer der SA befördert.“ (A.Belke-Herwig und B.Orth. Mitläufer und Strategien der Selbstentlastung – Zum Umgang mit der nationalsozialistischen Zeit in der Stadtpolitik nach 1945, in: Kassel in der Moderne – Studien und Forschungen zur Stadtgeschichte, hrsg. v. Jens Flemming und Dietfrid Krause-Vilmar, Schüren Verlag Marburg 2013, S. 542)].
Holländischer Platz
Auch dieser Name ist schnell erklärt: Eine alte Fernstraße verband Kassel mit den Niederlanden. Sie führte durch das „Holländische Tor“ aus der Stadt heraus. Dieses ehemalige Stadttor lag in der Nähe des heutigen Uni-Campus in der Nordstadt (amtlich: Nord-Holland). Nach dem Holländischen Tor wurde später der zentrale Verkehrsknotenpunkt der Nordstadt benannt, den wir heute als den Holländischen Platz kennen.
Von David Wüstehube