Die Simpsons, Streberinnen und Fridays For Future
Seit mittlerweile 30 Jahren gibt es die Simpsons – am 17. Dezember 1989 wurde die Pilotfolge der amerikanischen Comic-Serie ausgestrahlt. Man muss nicht Philosophie studiert haben, um sie zu mögen. „Aber es hilft“, sagt Martin Böhnert und lächelt. Auf den ersten Blick wirkt das Forschungsthema, dem er sich mit seinem Kollegen Paul Reszke widmet, ungewöhnlich: „Untersuchungen im Wechselspiel zwischen Wissenschaften und Popkultur“, so der Untertitel eines Buches, das die beiden herausgegeben haben.
Die Simpsons kommen darin zwar nicht vor, aber dafür eine Vielzahl von Beispielen, anhand derer die beiden Autoren illustrieren, welcher Erkenntnisgewinn sich aus der Analyse von Filmen, Fernsehserien und Comics gewinnen lässt, die auf den ersten Blick eher als seichte Unterhaltung eingeordnet werden.
„Ein gutes Beispiel ist die Zombie-Reihe The Walking Dead“, sagt Paul Reszke. „Natürlich kann man sich von der Serie einfach unterhalten lassen und den Gruselfaktor genießen, wenn man das möchte“, so Reszke weiter. „Wenn man aber sozusagen die Wissenschafts-Brille aufsetzt, lassen sich darin tolle Beispiele dafür finden, wie gesellschaftliche Fragestellungen in einer fiktiven Welt behandelt werden: Spielen beispielsweise Kategorien wie race, class und gender noch eine Rolle, wenn das gesellschaftliche Zusammenleben auf den Basisinstinkt des Überlebens reduziert ist? Und kann überhaupt wieder eine Zivilisation entstehen, wenn Institutionen des kulturellen Gedächtnisses wie Museen oder Feiertage nicht mehr existieren?“
Für ihr Buch „Vom Binge Watching zum Binge Thinking“ haben sich die beiden vor allem mit Erzählungen beschäftigt, in denen eine sogenannte Sekundärwelt konstruiert wird – dieser Begriff wurde vom berühmten Autor der „Herr der Ringe“-Trilogie J.R.R. Tolkien geprägt. „Im Kern geht es bei einer Sekundärwelt darum, eine in sich konsistente und kohärente Welt zu erschaffen und gleichzeitig das Unwirkliche dieser Welt zu zeigen, das jenseits des Erfahrungshorizonts unserer Realität liegt“, so Böhnert. „Gerade durch ‚realistische’, also glaubwürdige andersartige Welten wird das Nachdenken über ‚unsere’ Wirklichkeit angeregt.“
Die Simpsons sind in dieser Hinsicht für die beiden Wissenschaftler nicht so ergiebig wie andere Fernsehserien. „Die Welt der Simpsons ist unserer in dieser Hinsicht zu ähnlich“, sagt Böhnert. Ganz uninteressant aus wissenschaftlicher Sicht ist die Serie für die beiden aber dennoch nicht. Dass die Simpsons das Potenzial haben, wissenschaftliches Interesse zu wecken, hat bereits ein Sammelband aufgezeigt, der 2001 unter dem Titel „Subversion zur Prime-Time: Die Simpsons und die Mythen der Gesellschaft“ erschien und heute bereits in der dritten Auflage vergriffen ist.
„Die Simpsons sind ja mittlerweile weltweit verbreitet, viele Figuren haben dadurch einen Pop-Ikonenstatus und werden so zu Vorbildern“, sagt Reszke. Eines dieser Vorbilder sei die Serienfigur der Lisa Simpson, die eine spannende Entwicklung durchlaufe. „Zu Beginn der Serie ist Lisa recht eindimensional angelegt, als angepasste Streberin und Besserwisserin spielt sie den Gegenpol zu ihrem rebellischen Bruder Bart. Doch im Verlauf der Serie beginnt sie, das Establishment zu kritisieren, und entdeckt Themen, für die sie sich mit Herzblut engagiert – etwa den Umweltschutz.“
Als Lisa Simpson dann ihrerseits zu rebellieren beginnt, entwickelt sie das angesprochene subversive Potenzial. Dieses Muster wird auch in einer anderen populären Erzählung genutzt: Hermine Granger aus den Harry Potter-Büchern. „Auch sie ist erst die Klassenstreberin, kommt dann aber durch ihren Einsatz für die Hauselfen immer stärker in Konflikt mit dem politischen Establishment, weil sie das einsetzt, was sie gelernt hat: einen kritischen, reflektierten Umgang mit der Welt“, schildert Reszke.
Dieses popkulturell längst etablierte Bild ist hochgradig spannend und aktuell. „Wir wissen zwar nichts Genaues über Greta Thunbergs schulische Leistungen. Aber mit ihrem Schulstreik und ihrem Engagement für den Klimaschutz ähnelt sie auf jeden Fall der kritischen Lisa Simpson, die wir aus späteren Simpsons-Folgen kennen“, sagt Martin Böhnert.
„Daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, dass der Erfolg von Greta Thunberg auch auf der Ähnlichkeit mit Lisa Simpson und Hermine Granger beruht, wäre natürlich zu weit hergeholt“, ergänzt Reszke. „Aber diejenigen Elemente zu identifizieren, die allen dreien gemeinsam sind, und dann zu schauen, inwiefern zwei fiktive Pop-Phänomene Greta Thunbergs Entwicklung zu einem dritten vorbereitet haben, wäre aus unserer Sicht eine interessante Forschungsfrage.“
Text: Markus Zens, publik 4/2019